Um dieses Recht zu nutzen, braucht es den „Mut, nicht zu lügen“, was leichter gesagt als getan ist und „(…) in einer vielfach verlogenen Gesellschaft schwer, sehr schwer zu leben!“, so Johannes Heinrich in seiner Autobiografie. (S. 444)
Die Idee zur Autobiografie entstand 2010 durch einen Briefwechsel zwischen Johannes Heinrichs und Korai Peter Stemmann. Diese haben 2015 gemeinsam eine Publikation zum Enneagramm veröffentlicht. Vom Recht nicht zu lügen, macht nun der Sozialphilosoph Prof. Dr. Johannes Heinrichs in dieser vielschichtigen Autobiographie Gebrauch.
Im Februar 2023 bei Europa Buch, Berlin erschienen, ist das 497 Seiten umfassende Werk mehr als nur der Rückblick auf ein wechsel-volles Leben. Es berührt freimütig Glaubensfragen, die Auseinandersetzung mit sexueller Orientierung, die vermeintliche Bindung an das Zölibat, das Wirken des Konkordats, Themen wie Demokratie, Finanzsystem, Kapitalismus, und die Bedeutung persönlicher Integrität.
Im Gespräch mit Korai Peter Stemmann gibt Johannes Heinrichs teils brisante Einblicke in sein ordensgebundenes Leben und Studieren, in römisch-katholische Doppelmoral, die stillschweigende Toleranz homosexueller Beziehungen im Orden und weitreichende Einflussnahme kirchlicher Würdenträger in die Universitäten. Er berichtet von Seilschaften und bewusst gespannten Fallstricken für jene, die sich den Regularien katholischer Machenschaften entziehen. Neben fragwürdigen Priestern begegnen wir unlauter konkurrierenden akademischen Größen und kleinherzigen Vertretern verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Dieses Buch liest sich teilweise wie ein Krimi.
Es sind die Verstrickungen von Kirche und Staat bzw. Lehre, beruhend auf den 1933 zwischen Hitler und dem „Heiligen Stuhl“ geschlossen Verträgen, die dem Sozialphilosophen Johannes Heinrichs nach seinem Kirchenaustritt das akademische Kreuz brechen und ihn im gewollte Abseits halten. Korai Peter Stemmann konstatiert in diesem Zusammenhang „Eigentlich sollte man erwarten, dass in einem demokratischen Staat eine weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates gewährleistet ist, besonders an den Universitäten. Für mich war neu, dass dies in Deutschland nicht so ist.“ (S. 391) Nur einmal kann Johannes Heinrichs das akademische Aus verlassen und über Sonderwege für sieben Semester in Berlin lehren.
Johannes Heinrichs erzählt aber auch von seiner philosophischen, theologischen und spirituellen Entwicklung, seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Philosophie und Philosophen, seinen vielfältigen Kontakten innerhalb und außerhalb Deutschlands, dem Entstehen und der Resonanz vieler seiner Schriften und seinen Hoffnungen hinsichtlich der gesellschaftlichen und politischen Zukunft in Deutschland.
Für mich ist diese Autobiografie lehrreich, desillusionierend und berührend. Meist be-schreibt Johannes Heinrichs sein wechselvolles Leben, das Ringen um Erkenntnis und Wahrheitssuche mit ruhiger, vielleicht distanziert wirkender Nüchternheit, die manchmal poetisch durchbrochen wird. Selten erscheint mir der Ton seiner Sprache emotional, nie bedauernd sentimental, an manchen Stellen aber bitter. Dann „menschelt“ es und ist zu spüren: Hier gibt einer mehr als nur sich zu erkennen – ungeschönt.
Vielleicht wird dem Dichter und Denker Johannes Heinrichs durch seine Autobiografie gerade noch zu Lebzeiten die ihm schon lange zustehende, leider weitgehend ausgebliebene, breite Anerkennung zuteil. Danke, Johannes Heinrichs, für den Mut und das Recht, nicht zu lügen – in meinen Augen eine Pflicht, zu lesen.